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Maueröffnung Potsdamer Platz Berlin

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Einführung

von Birgit Anna Schumacher[1] anlässlich der Ausstellung „Sofort, UNVERZÜGLICH – Fotografien von Lothar M. Peter“

  1. Oktober bis 17. November 2019
    Museum Lichtenberg im Stadthaus, Türrschmidtstr. 24, 10317 Berlin

Über dem Tag liegt eine unerträgliche Hitze – wie über allen Tagen der vergangenen Wochen. Auf den Feldern steht die Hirse – jetzt nach der Regenzeit – zwei Meter hoch; und während Kinder ihre kleinen Autos, die sie aus alten Blechbüchsen und anderen Fundsachen formvollendet zusammengebastelt haben, mit Stöckchen über die sandigen Wege jagen, tragen Frauen Wasser in Kanistern auf den Köpfen balancierend und Babys an Rücken und Bäuchen befestigt ins Dorf, wo die Männer im Schatten der großen Bäume sitzen und Politik machen. Irgendwo plärrt ein batteriebetriebenes Radio; es gibt selten Strom und gar kein Telefon hier in einem der kleinsten Dörfer im nordwestlichsten Zipfel von Ghana. Es ist der 10. November 1989 – ein Tag wie jeder andere. Bloß lag da dieser Brief auf dem Tisch in meinem Lehmhaus, der mich von zuhause erreicht hatte: „Honecker ist zurückgetreten!“

An diesem Tag sollten meine Kommilitoninnen und ich noch bedeutend Ungeheuerlicheres erfahren: Ein Treffen unserer ethnologischen Forschungsgruppe war anberaumt, in Wa, der Hauptstadt der Upper-West-Provinz, wo es eine Post mit einem öffentlichen Telefon gab – der einzige direkte Draht in die Heimat. Doch alle Leitungen nach Berlin schienen verstopft zu sein, kein Durchkommen. Hanne war die erste, der es gelang, ihren Freund zu erreichen. Wir anderen standen neben ihr, gespannt wie Flitzebogen. Sie rief laut in den Hörer: „Was? Unglaublich! Wahnsinn!“ und gestikulierte wild mit der freien Hand. Dann brach die Leitung zusammen. Sie legte hastig auf, blickte uns an und sagte mit weit aufgerissenen Augen, die Stimme gesenkt mit fast ehrfurchtsvoller Note: „Die Trabbis rollen über den Kudamm!“

Die Tage danach waren geprägt von Staunen und riesiger Freude über den Fall der Mauer. Doch ehrlich gesagt: Zuvorderst ergriff mich ein Gefühl von Irritation, auch kroch leise eine Angst in mir auf, denn die bruchstückhaften Informationen, die mehr und mehr zu mir aus der Heimat durchdrangen, konnten den Durst nach Verstehen und Nachvollziehen dessen, was da passierte, nicht stillen. Eine Melange der Befindlichkeiten, die sich zu gleichen Teilen aus höchster Erregung, Verstörung und dem Gefühl des Ausgeschlossen Seins – hier, so weit weg vom Geschehen – zusammensetzte, sollte mich von nun an bis zum Ende meines Aufenthalts begleiten und die Einsamkeit der Forscherin in der Fremde noch verstärken. Am meisten fehlten die Bilder.

Wenn immer möglich, presste ich mein Ohr an das Transistorradio und hörte Deutsche Welle, vollendete abgehackte Sätze so, dass sie für mich Sinn ergaben. Aber es gab keine Zeitungen, keine Fotos. Die entstanden in meinem Kopf, da fuhren die Trabbis über den Kudamm in blass-pastelligen Farben, da flogen die gelben Bananen durch die Luft, und die indigo-blauen Jeanshosen der Ossis – pardon, so nannten wir Euch damals – reihten sich in langen Schlangen vor Beate Uhse. Bunte Szenen in jener halben Stadt, die ich kannte und deshalb zur Kulisse werden ließ für diese Bilder, in meiner Phantasie zu Klischeehaftem zusammenchoreografiert. Diese Fotostrecken meiner Vorstellung waren lustig, absurd, und mit kindlicher Naivität „geknipst“. Doch wenn sich die Einsamkeit zurückmeldete und mit ihr die Furcht, dass mich das alles zuhause überfordern würde, und nicht nur mich, sondern irgendwie alle überfordern könnte, weil es so unfassbar war, dann waren die Bilder meiner Augen-Kamera schwarz-weiß. Dann stürzten die Mauerplatten in schwarz-weiß zu Boden, dann war der Himmel über Berlin mit grauen Wolken verhangen.

Zurück in meiner Stadt, war da zum Glück die Flut der bunten Bilder in den Zeitschriften, die Freunde für mich gesammelt hatten, und auf den Fernsehmonitoren immer neue freudige und heitere Bilder: Trabbis, in denen lachende und winkende Menschen saßen und auf deren Dächer Passanten wie verrückt herumklopften, emsige Mauerspechte aller Ortens, Wessis und Ossis in innigen Umarmungen, Küsse unter Tränen überall. So sehr ich mich für die Menschen freute, die jenes Glück durchleben durften, so schnell ging mir die heraufbeschworene Symbolkraft dieser Bilder auf die Nerven.

Und dann sehe ich die Fotografien von Lothar Peter – der schon damals ein guter Freund war. Da war sie auf einmal, die „echte“ Gestalt jener Tage des Mauerfalls – davor, währenddessen und danach, changierend zwischen Freude und Tristesse, zwischen den ganz kleinen Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft mit gar nicht so andersartigem Aussehen (die 80er Jahre kleideten und frisierten Ost und West auf erstaunlich gleiche Art …) – und den ganz großen Gefühlen, die mitnichten Pathetisches hervorbrachten (auch dann nicht, wenn hin und wieder penetrante „Symbole“ auftauchten wie die trophäenhaft hoch gehaltene Orange); Fotografien, die ehrlich schienen, fest-gehalten mit dem Wunsch, die Dinge, die passierten, abzubilden, ohne sie zu überheben, ohne sie zu beschönigen, doch auch nicht auf die Möglichkeiten der fotografischen Kunst verzichtend: Schärfen und Unschärfen im Bild so platziert, dass Stimmungen pointiert und interpretiert werden und Dynamik entsteht wie durch Dynamit – gezündet von einem Kamerablitz, der am helllichten Tag eingesetzt wird. Der Blick für den einen, den ganz besonderen Moment, und die Wahl einer Technik, die diesem Moment gerecht wird, macht aus diesen Fotografien Kunstwerke.

In den 50ern in Polen geboren, am Niederrhein aufgewachsen und dann nach Neukölln ins geteilte Berlin gezogen, wurden Lothar Peter und seine Kamera zu unablässig begeisterten und leidenschaftlichen Zeugen des Wandels unserer Stadt.

Lothar Peter ist ein Flaneur, der im Spazierengehen seinen Blick umherschweifen lässt und der seine Reflexionen aus kleinen Beobachtungen gewinnt. In der Entspannung des Flanierens gedeiht eine Wachheit, ein verfeinerter Blick – ganz und gar im Sinne Flauberts. Lothar Peter geht es gelassen an: Selbst in der aufgeladenen Menschenmenge, als am Potsdamer Platz die Grenze geöffnet wird, und wo der eine Augenblick, den es zu fotografieren lohnt, den nächsten jagt, wechselt er „in aller Gemütlichkeit“ die Filme in seiner Kamera, einer Franka, 12 Bilder pro Film, mit der Hand wird nachgedreht.

Er wollte erst gar nicht hingehen, erzählte er mir. Da sind schon Zig-Hunderte Fotografen vor Ort, dachte er, und dann hat es ihn doch gepackt. Nicht, um zu dokumentieren, nicht, um die Bilder am nächsten Tag der Presse zur Verfügung zu stellen. Er wollte fotografieren, auf seine Art, ganz in Ruhe und ohne Auftrag. „Das ist anders fotografieren“, sagt er.

In einem kunstwissenschaftlichen Essay anlässlich einer Ausstellung der Fotografien im Jahr 1999 in der Neuköllner Galerie im Saalbau wurden die Bildjournalisten, die sich eng an eng auf den Aussichtsplattformen am Potsdamer Platz reihten, als die „eigene Zunft“ bezeichnet, von Lothar Peter „aufs Korn“ genommen. Einspruch – zu dieser Zunft zählt er mitnichten.

Und das belegen die Fotografien, die wir hier betrachten können, aufs Vortrefflichste – eine Auswahl von einigen Hundert, die zwischen 1985 und 1995 entstanden sind. Lothar Peter fängt mit ihnen die Menschen ein – und das Menschliche. Darum geht es ihm stets.
Die Mauer, in all ihrer Wucht und Größe, und ihr Fall in jenen Tagen im November 89, steht weder als bauliches Machwerk im Mittelpunkt noch dient sie als maskenhaften Kulisse für ein emotionales Aufpeitschen: Sie prägt das alltägliche Lebensmilieu dieser Stadt, doch sie ist nicht der „Player“ auf diesen Bildern, dies sind die Menschen, die durch ihr Dasein getrennt wurden und durch ihre Zerstörung zusammenkommen konnten.

 „Ein Fotograf kann den Menschen nicht in die Seele blicken, er kann nur die Oberfläche abbilden“, behauptete jüngst ein Kollege. Urteilen Sie selbst – ich finde, auch hier gilt es heute, Einspruch zu erheben.

Trotz der frohen Stimmung und einer sichtbar und nahezu spürbar wieder hervorbrechenden Lebenslust, die ganz klar im Vordergrund dieser Fotografien jener Momente des Mauerfalls steht, brachten mich diese Bilder im Herzen zurück nach Ghana. Zurück zu den Anfängen einer Gefühlswelt in mir, in der genau das kumulierte, was ich heute empfinde bei ihrem Anblick, 30 Jahre später; Jahre, in denen die Freude über die Vereinigung auch vielen Dämpfern und enttäuschten Hoffnungen Stand halten musste und durch Dummheit bisweilen zur Gänze beschädigt wurde – heute mehr denn je, angeheizt von falschen Rittern einer xenophobischen Tafelrunde, die sich Zwietracht und Hass auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Wenn ich diese Fotografien also heute betrachte, so sehe ich auf ihnen nicht nur die unbändige Freude der Menschen über den Fall der Mauer, ich erahne durch sie auch jene Beschädigungen – abgebildet in schwarz-weiß und eben nicht in Farbe, nämlich genau so, wie sich Beängstigendes in der inneren Vorstellungswelt abbildet; so, wie die Mehrzahl der Bilder in meinem Kopf entstand, als ich im Herbst 89 in der Fremde weilte.

Denn das Spiel mit Schärfen und Unschärfen erzeugt nicht nur Dynamik, sondern auch Irritation, lässt Ränder zwischen Realität und Vermutung verwischen. Kamerablitze im Sonnenlicht erhellen nicht nur, sondern lassen auch Wirkliches auf eine dystopische Weise unwirklich erscheinen.

Lothar Peter, der Flaneur mit der Kamera, nahm nicht nur die Freude und das Glück der Menschen in den Tagen des Mauerfalls in aller Schönheit auf; für mich besitzen diese Fotografien zudem die Kraft einer Intuition, einer Vorahnung, die Geschehnisse in der Zukunft anzudeuten vermag – vorsichtig, behutsam und mit äußerstem Feingefühl.

Ich beende diese recht persönliche Einstimmung auf faszinierende und berührende Fotografien, ohne allzu viel über deren bildnerische Inhalte gesprochen zu haben. Ich werde dies auch nicht mehr tun: Entdecken Sie selbst die kleinen und großen Geschichten in ihnen; vielleicht erinnern Sie sich an die eine oder andere Situation – etwa bei den Bildern vom Potsdamer Platz, wo am 12. November 89 um acht Uhr morgens ein weiterer Grenzübergang geöffnet wurde und sich Abertausende versammelt hatten; als Heinz Keßler, damals DDR-Verteidigungsminister, um zwölf Uhr mittags im Fernsehen die Aufhebung des Schießbefehls bekanntgab. Andere Orte an der Mauer mögen Ihnen irgendwie bekannt vorkommen, aber Sie sind sich nicht sicher, ob es an der Sonnenallee oder auf der Schlesischen Straße war? Fragen Sie ihn selbst: Lothar Peter ist nicht nur exzellenter Fotograf, sondern auch leidenschaftlicher Geschichtenerzähler! Und als er mich darum bat, eine Ansprache zu dieser Ausstellung zu halten, musste ich nicht lange zögern: Ich sagte zu – sofort, unverzüglich.

[1] Mit ihrer Heirat des Fotografen Theo Lustig im März 2020 änderte sie ihren Namen in Maria Lustig.